Am Anfang steht schlichtes Betrachten, ungehindert und frei.
Jene großen grünen Räume, über die schwarze Tusche sich ergießt, flüssig und zart, ein Grün durchströmt von dunkler Farbe. Hier ist sie der Tanz eines nach vorne geschleuderten Körpers, großzügige lebendige Energie, ein Wurf ins Ungewisse, den nur diese zugrunde liegende gleichmäßige Gewissheit, diese Stabilität des Untergrunds ermöglicht. So kann das Schwarz fließen, pulsieren, sich tausende im Licht changierende Reflexe erfinden: Das unterstützende Grün ist stets da.
Anderswo, im gleichen Frieden, wo der Blick sich plötzlich einen in herbes Licht getauchten großen Olivenzweig fantasiert, diese Natur, die mit ihrer Leidenschaft über die Trockenheit des Ortes siegt, schlängelt sich das Schwarz gen Himmel. Der Parcours mit seinen ausgeprägten Wölbungen zeugt von Spannung, von dem Schwung, der das knotige Holz beherrscht; er ist lebendiges Abbild der Lebensalter, die hinter uns liegen, und der tiefen Wurzeln dieses so schwierigen und dennoch wunderschönen Lebens.
Und einfach so wird das Gemälde zur Landschaft. Ein anderer Blick mag darin ein Gesicht, ein Rufen erkennen. Unwichtig, denn vor allem lädt es den Betrachter ein zu einer sinnlichen Erfahrung. Dass die Erschafferin dieses Werkes, oder genauer die Künstlerin, durch die es das Tageslicht erblickte, Japanerin ist, würde ein Experte wohl sofort erkennen. Er suchte darin wohl nach der Kunst der inneren Meditation, nach dem tiefen Reifen, aus dem Momentaufnahmen von Macht und Gnade erwachsen, die einen bestimmten Eindruck heraufbeschwören.
Mit diesem Gemälde beginnt jedoch ein anderes visuelles Abenteuer. Werke aus einer anderen Welt, gestaltet in fernöstlicher Technik und doch genau hier entstanden, beflügelt durch eine Jahrhunderte alte Kultur und dennoch für das Hier und Heute bestimmt: In ihren Werken fordert HIROKO uns auf zu einer wirklichen Reise, zu einer Entäußerung, ja, so stark dieses Wort auch erscheinen mag, zu wahrer Freiheit. Jener Freiheit, die HIROKO sich selbst schenkte, als sie über eingehend studierte Bildtraditionen hinausging; aber auch jene, die sie uns damit ermöglicht. HIROKO ist der wahren Provence begegnet, ihrer stolzen schwärmerischen Natur, sonnenverbrannt und flirrend, einer Natur, die man nicht täuschen kann. Sie hat sie betrachtet, mit ihr gelebt, ihr Licht aufgesogen. Und es entstanden neue Bilder. Ihr Körper als Sammelbecken all dieser Sinneseindrücke überließ sich ganz ihrer Energie und übertrug diese Eindrücke an ihren Pinsel.
Er war es, der in sicherem schnellem Strich ausdrückte, was Stunden voll geduldiger und aufmerksamer Offenheit für die Welt angehäuft und schließlich mit dem eigenen Erleben der Künstlerin vermischt hatten. Und so könnte man von diesen Bildern wohl sagen, sie seien „verstoffwechselte Landschaften“. Kehren wir zurück zum Grün, dieser einzigartigen beunruhigenden Farbe, und so sehr dort auch das strahlende Gelb der großen Sonnen nach Aufmerksamkeit sucht, wäre es doch nicht möglich ohne das Blatt, den Baum wie auch die farbenfrohen Windungen des Unterbewussten. Äußeres und Inneres sind vereint und werden durchströmt von einem Atemzug – jener Tusche, die fließt, gleitet, spritzt.
HIROKO empfängt dessen Gabe. Zur breiten Bewegung der Tusche, einer Erinnerung an die von der Hand ausgeführten, wenn auch vom Pinsel gewollten Geste, gesellen sich auf ihren Gemälden unter dem schöpferischen Willen hier und dort ganz zufällig verteilte Tröpfchen, das Gewicht des über die riesige Leinwand gebeugten Körpers.
Wunder des Unvorhergesehenen, das geschieht und nicht beseitigt wird, denn es ist ein Abbild jener reichen Selbstzeit, die die Malerin für sich eingefangen und befreit hat. Wenn die aus der häufig durstigen Natur der Provence inspirierten grünen Bilder auch einen eher schmalen Tintenfluss zeigen – einen Fluss, dessen Bett hell durchschimmert –, so verwendet die Künstlerin in den Gemälden mit ihrem roten, dichten und schwindelerregend tiefen Hintergrund doch ein kompaktes undurchdringliches Schwarz. Ein Geheimnis ist damit verknüpft, ein pulsierender und doch gewaltloser Herzschlag, und kündigt eine neue Reise an.
Allerdings gibt HIROKO niemals die Richtung vor, sie bestimmt nicht den „Sinn“ der Reise. Sie eröffnet uns nur die Möglichkeit eines Weges. Jedem obliegt es, seinen eigenen zu finden, es zu wagen, in seinem Selbst die sich dabei abzeichnenden Bereiche zu erforschen. Hier trifft jeder stets auf Bewegung, auf Energie und Licht und Farbe – wie auch auf deren Echos in sich selbst. Hier erkundet jeder stets sein eigenes Gedächtnis, seine Fantasiewelt, sein Verlangen, aber auch die Gedankenwelten eines anderen, was es ihm ermöglichen wird, darüber hinauszugehen. Die Malerei als Wegbereiter des eigenen Selbst.
Hélène Basso
Hiroko: Influx
Vergangene exhibition
23 Februar - 23 März 2019