Gedanken zu Koichi Nasu
„Wenn im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu bezeichnen, befreit wird und selbst als ein Ding fungiert, wird ihr innerer Klang durch keine Nebenrollen abgeschwächt und bekommt ihre volle innere Kraft.“
Wassily Kandinsky, Über die Formfrage (in Der Blaue Reiter, 1912)
Innerer Klang ist Poesie.
Als ich erstmals ein Bild von Koichi Nasu sah, kamen mir Partituren neuer Musik in den Sinn. Doch damals schob ich diesen Gedanken zur Seite und beschränkte mich darauf, über des Künstlers Poesie der reinen Malerei zu schreiben. Diesmal jedoch geben mir die Zeilen von Kandinsky die Möglichkeit, mich Nasu aufs Neue zu widmen.
Die Bilder von Koichi Nasu werden von Linien bestimmt, von betont gemalten Linien und von zarten Linien. Unter den Linien sind zumeist Farbfelder verteilt, die stets auf ihre eigene Ordnung bedacht sind, unabhängig von den Linien. Fast immer ist ihr Farbton zurückhaltend, zart aquarelliert oder mit feiner Acrylfarbe versehen, seltener mit Tusche, die dann aber schwarz ist und stark dominiert. Die Anordnung der Farben geschieht in Harmonie mit dem Rechteck der äusseren Bildgrenzen. Starke Farbe befindet sich immer gegenüber einem entsprechend größeren hellen Farbfeld. So vermittelt schon alleine die Farbe eine Atmosphäre der Ruhe.
Doch die Farbe ist nie alleine in den Bildern von Koichi Nasu. Denn da sind noch die Linien, die darauf bedacht sind, gewissermaßen in einer Ebene über ihr nach eigenen Vorstellungen zu leben. Man könnte fast sagen, dieser Maler ist in erster Linie ein Zeichner. Denn, es ist das System der Linien, mit dem er jedem seiner Bilder jene wunderbare Lebendigkeit schenkte, die sein gesamtes Werk auszeichnet. Diese Linien umreissen keine Form von „Dingen“. Sie sind nicht Ausdruck einer übergeordneten Idee geometrisch konstruktivistischer Absicht. Sie orientieren sich lediglich an den Formen des farbigen Bildes, über das sie sich ausbreiten, wie es ihnen passt. Sie spielen mit dessen Erscheinung. Sie wechseln frei die Farbfelder, besuchen helle und dunkle Flächen. Wir sehen sie durchweg als gerade Linien und Winkel. Ganz selten einmal als mit dem Zirkel aus großer Distanz gezogene flache Kurve.
Koichi Nasu ist im Jahr 2003 gestorben, doch durch seine Bilder wird er für mich lebendig. Nasu ist Japaner. Handwerklich wurde er überwiegend in Europa ausgebildet, doch den Einfluss des japanischen Weges seiner künstlerischen Erziehung finden wir in nahezu jedem seiner Bilder.
Vielleicht kennen Sie die Geschichte von dem Mönch, der von seinem Abt den Auftrag erhält, die auf dem Weg zum Tempel liegenden Blätter zu entfernen. Als der Mönch seine Arbeit beendet hatte und sie dem Abt zeigte, griff dieser in den frisch gefüllten Korb, holte einige der Blätter wieder heraus, verstreute sie mit einer Bewegung seines Armes und sagte, „jetzt erst ist Deine Arbeit getan!“
Und wieder sind es die Linien. An ihnen können wir sehen, wie sich für Nasu „die Blätter auf dem Weg zum Tempel“ bemerkbar machten. Gewiss sind es für ihn nicht Blätter gewesen, doch ganz sicher irgend eine Begegnung, eine Erkenntnis in seinem Leben, wann und wo es auch immer gewesen sein mag: ich meine das Wesen seiner Linien. Folgen Sie ihnen mit den Augen und finden Sie die kleinen Richtungsänderungen. Mit der Idee zu dieser minimalen Geste hatte er seine Handvoll Blätter auf den Weg gestreut.
Ist er ein Künstler des geometrischen Konstruktivismus? Begegnen wir seinen Bildern, könnte das der erste Gedanke sein. Und dann entdeckt man etwas, das Kandinsky Freude gemacht hätte: Die Linien in den Bildern von Nasu gehen wirklich völlig eigene Wege, denn sie folgen dem Lineal ein Stück, dann verschieben sie es kaum merklich und ziehen weiter, einen stumpfen Winkel von etwa 179 Grad hinter sich lassend. So ziehen sie über das Bild auf ihrem Weg zu dem, das Kandinsky den „Inneren Klang“ nannte. Möglicherweise findet sich darin die Erklärung für meinen ersten Eindruck von Partituren zeitgenössischer Musik.
Peter Cornell Richter, 2021