Die neuen Arbeiten von Yuko Sakurai (*1970), die in ihrer nunmehr vierten Einzelausstellung in der Galerie Friedrich Müller gezeigt werden, sind von bestechender Sensitivität. Das ist sicherlich das Resultat ihrer zurückgezogenen Lebensweise in Japan, ohne die Auslandsreisen, die für ihre früheren Arbeiten so wichtig waren. Verinnerlichung und Konzentration einerseits, eine überraschende Vielfalt an formalen Möglichkeiten andererseits, das sind die Kennzeichen ihrer Arbeiten aus den letzten Jahren. Wenn man die Exponate einmal Revue passieren lässt, ist man doch erstaunt über die große Bandbreite in Farbbehandlung und Formgebung. Das reicht von fast monochromen, nur zart nuancierten Blättern bis zu kontrastreichen Farbkombinationen, von lockeren, frei fließenden Pinselstrichen bis zu kompakt „gebauten“, gerasterten Farbflächen. Es gibt Arbeiten, in denen der visuelle Aspekt der Farbigkeit im Mittelpunkt steht, und solche, bei denen die Haptik, die schrundige Textur der pastosen Farbmassen, dominiert. Und obwohl sonst die flächig aufgetragene Farbe Sakurais Markenzeichen ist, überrascht das Diptychon „Kamakura“ mit einem dichten Raster von unzähligen hauchdünnen Linien, die sie in die noch feuchte Farbe geritzt hat.
Diese Vielfalt, die jedoch nichts von Beliebigkeit hat, sondern einem strengen Formgefühl verpflichtet ist, zeugt von einer Freiheit im Umgang mit den künstlerischen Mitteln, die im Werk von Yuko Sakurai neu ist. Beim Betrachten ihrer Arbeiten ist es ratsam, sich in Erinnerung zu halten, dass die Künstlerin sie keineswegs als Gemälde versteht. Ihre Werke sind vielmehr als Objekte zu begreifen, die zwar mit Ölfarbe auf unterschiedlichen Trägermaterialien gefertigt sind, jedoch keiner Logik der Malerei folgen. Es sind sorgsam gearbeitete flache Objekte, bei denen jede Einzelheit wichtig ist und ihren Anteil an der Gesamterscheinung hat. Dieser Objektcharakter ist bei den kleinen Arbeiten, auf die sich die Ausstellung konzentriert, sehr gut nachzuvollziehen. Die oft unregelmäßig geschnittenen Formate, ihre ausgefransten Ränder betonen noch die Materialität der Arbeiten und ihre haptischen Qualitäten.
Die neue Freiheit, die Yuko Sakurai sich erlaubt, zeigt sich auch darin, dass sie als Träger für die Ölfarbe neben den zarten Japanpapieren, die sie schon seit etlichen Jahren verwendet, auch textiles Material, genauer: Teile von Kleidungsstücken wählt, die sie noch aus ihrer Jahre zurückliegenden Zeit in den Niederlanden zurückbehalten hat. Diese mit Erinnerung und gelebtem Leben „aufgeladene“ Materialität ist als Ausgangspunkt für die weitere Bearbeitung sehr wichtig.
Die Erinnerung an verschiedene Orte und Regionen, die sie besucht und deren Atmosphäre sie mit allen Sinnen erfasst hat, ist das künstlerische Thema von Yuko Sakurai; daran hat sich in den vergangenen Jahren nichts geändert. In einem anderen Sinne aber spielt die Erinnerung eine entscheidende Rolle bei jenen Arbeiten, die sich auf Fukushima beziehen. Sie sind Teil eines Langzeitprojekts, das Sakurai 2012 startete und das sich auf die Reaktorkatastrophe vom März 2011 bezieht. An verschiedenen Orten, wann immer sie auf diese Thematik stößt, etwa nach dem Besuch einer Ausstellung in Kanazawa, fertigt sie solche Werke an. Bemerkenswert ist, dass sie dafür stets Rot verwendet; als „Alarmfarbe“ soll die rote Farbe eine Signalwirkung entfalten und bei den Betrachtern die Erinnerung an das Unglück und das Leid der Menschen in der Region Fukushima wachhalten.
Peter Lodermeyer