Einige Gedanken zu Werken des Sho-Meisters Inoue Yuichi
Man nennt sie SHO, diese Kunstwerke, die Wort und Bild zugleich sind. Das Schriftzeichen Sho steht (nach Rose-Innes) für Schreiben, für Dokument, Brief und für literarische Komposition. Und weil Schreiben und Malen im fernen Osten seit jeher mit den gleichen Mitteln geschehen, nämlich mit Tusche und Papier, sind Wort und Bild einander nicht fremd.
Das alte Hüttchen,
zerstört von Regen und Wind -
Seine Bewohner?
Wie Erdmännchen stehen nun
die armen 16 Arhats.
(Inoue Yuichi, 1973)
Gleich den Vögeln am Himmel eilen sie dahin, die Silbenzeichen des Inoue Yuichi, nachdem er sie mit schwarzer Tusche auf das Papier geworfen hat. Schnell verteilt er sie dort, rauh und zärtlich zugleich wirkt der Weg seines Pinsels. Dass einiges dabei über den Rand des Papiers hinaus geht, stört weder ihn noch die Betrachter. Ein heiteres Schriftbild. Die 16 heiligen Figuren haben es ihm angetan.
Wo immer man zu Fuß unterwegs ist in seinem Land, sei es im Wald, in einem Park, in der Stadt nahe einem Tempel, überall kann man ihnen begegnen, diesen fast stets in einer Gruppe eng beieinander stehenden steinernen Wesen. Den Stein, aus dem sie geformt sind, kann man leicht vergessen, wenn man dessen gewahr wird, von welch unterschiedlichen Persönlichkeiten man hier angeschaut wird. Sie sind Buddhas stille Helfer; seine 16 einstigen Schüler, die nun darauf achten, daß seine Lehre nicht vergessen wird. Man nennt sie RAKAN. Das bedeutet: „In einer Reihe stehende Menschen“. Dieses Wort entstand aus dem Begriff ARAKAN, der japanischen Version des Sanskrit Wortes ARHAT. Ein Arhat ist ein menschliches Wesen, das sich aus dem Zwang der ewigen Wiederkehr im Rad des Lebens befreit hat.
Die RAKAN-Gestalten sind nach wie vor sehr beliebt und geachtet im ganzen Land. Gelegentlich bauen Mönche oder Nachbarn um sie herum einen Schutz gegen Regen und Wind, aus dem heraus sie zusammen durch eine offene Wand schauen können. Die hier von Yuichi angetroffenen 16 RAKAN standen ungeschützt in den Trümmern ihres zerfallenen Daches und wurden im Regen genau so nass wie er.
Mitleid ist ein Empfinden, das immer wieder aufscheint in den Themen seiner künstlerischen Arbeit. Da begegnen wir Bildtiteln wie HIN (Armut), SHUHIN (sich die Armut bewahren im Sinne des Zen) KÔ (kindliche Pietät), DAN (sich entscheiden), aber auch RYÛ (Drache), TORA (Tiger) und gerne auch immer einmal wieder HANA (Blüte). Doch bei ihr dachte er überwiegend in buddhistischem Sinn an MANDARA-KE (himmlische Blüte des Mitgefühls).
Der Baum, der sich mit dieser Blüte stets im Überfluss schmückt, ist der ursprünglich aus China stammende Rotblütenbaum. Wir kennen ihn unter dem Namen „Judasbaum“, bzw. “Redbudtree“.
Eine Arbeit aus dem Jahr 1974 stellt ihn uns vor. Sie trägt zusätzlich zu ihrer Signatur den Vermerk, daß sie 1974 in Arima, einer Gemeinde am nördlichen Rand von Kobe entstanden ist.
Vom Land her wird die Hafenstadt Kobe von dem Berg Rokko überragt, der den großstädtischen Bereich von Arima trennt, das auf diese Weise etwas isoliert, ein ganz eigenes Leben zu Füßen der abgewandten Seite des Berges führen darf. Arima beherbergt das älteste Onsen des Landes, ein Bad, dessen heisses Wasser seit Jahrhunderten aus den Tiefen der Erde kommt und genutzt wird. Den Namen dieses Ortes können wir immer wieder einmal mit unterschiedlicher Jahresangabe am Rand einer Arbeit von Yuichi entdecken. Er mochte den Ort, schätzte das Bad und er liebte die verschwenderische Blumenpracht von Arima, zu der auch der Rotblütenbaum seinen Teil beiträgt.
Dem Bild gab er den Titel HANA ZUO (Rotblütenbaum).
Und es ist HANA, die Blüte selbst, die das Papier von oben her bis zur Mitte beherrscht. Die beiden Silbenzeichen ZU und Ô sind zufrieden mit dem leicht gewundenen Stamm. Das große HANA-Kanji zeigt sich hier stellvertretend für einige tausend Blüten, die jeden dieser Bäume schmücken.
Bleiben wir noch ein wenig in Arima. Wieder sind es Blüten, die Yuichis Gedanken bewegen, wieder entsteht ein kleines Bild und mit ihm ein spontanes Gedicht. Und wieder ist es ein fünfzeiliges Waka. Doch diesmal wird schon beim ersten Betrachten des Bildes immer deutlicher, dass es eine bittere Erinnerung birgt.
Wieder tanzen die Vögel. Diesmal in einem nahezu quadratischen Bildfeld. Und wieder huscht der nun etwas stärker mit schwarzer Pigmenttusche getränkte Pinsel leicht über das Papier. Yuichis Hand führt die Vögel von rechts unten fächerförmig nach links oben, wobei die lockere Ordnung mehr und mehr gestört wird und sich zusehends in leicht chaotisches Gedränge verwandelt. An der rechten Seite beginnt es mit unbeschwerter Hand angesichts der Hortensienmatten in Arima und wandelt sich von Zeile zu Zeile in zunehmende Unruhe, hervorgerufen durch die wehmütige Erinnerung an sein einst durch Bomben verlorenes Zuhause:
Oft frage ich mich / blühen sie wohl noch immer? / die Hortensien / die ich durch mein Fenster sah / als mein Haus noch nicht zerstört.
Ganz im Gegensatz zu der das Schriftbild auf dem Weg nach links hin verwandelnden Unruhe in den Details zeigt die Erscheinung dieses Kunstwerkes eine bemerkenswerte Geschlossenheit und Ruhe. Vielleicht verdankt Yuichi das seiner Liebe zu jenen Blumen aus der Vergangenheit und denen der Gegenwart, die zusammen Ihn dazu veranlasst hatten, dem aus dem Gedicht bestehenden Bild diese Ruhe und Vollkommenheit zu schenken.
Es liegt in der Macht des SHO, der “Kunst des Schreibens der chinesischen Schriftzeichen“, dass man mit der Darstellung des Kanji sehr viel mehr ausdrücken kann als nur das schlichte Nennen eines Wortes.
Im Jahr 1995 begegneten dem damaligen Kulturchef der Basler Zeitung und mir in der Kunsthalle von Basel 19 TORI von Inoue Yuichi. 19 mal das Schriftzeichen für Vogel, jeweils auf einem Papier im Format von etwa 120 mal 230 cm. Jedes war als “TORI“ erkennbar und dennoch glich keines den anderen. Wir waren dort verabredet mit einem Freund des 11 Jahre zuvor verstorbenen Künstlers. Es war der Tag vor der Eröffnung der Ausstellung. Lange standen wir dort, umgeben von den großen Vögeln. Ganz still standen wir da. Und um uns herum wurde es immer lebendiger, wie wenn die Vögel vergessen hätten, dass wir da sind. Ein Saal voller Leben, - und wir drei, ohne uns zu rühren, mitten drin. Das war ein unglaublich schönes Geschenk von Yuichi.
Diese herrliche Ausstellung war damals von Friedrich Müller vermittelt worden. Und hier, in seiner Galerie, hat sich nun einer jener Vögel wieder eingefunden. In der Reihenfolge des Kataloges war er damals der achte.
Peter-Cornell Richter (C) 2022