Mit Werken von:
YU-ICHI
Shiryû Morita
Takeuchi Fûsei
Chiba Hangai
Dairaku Kasetsu
Ishii Nankô
ZENEI-SHO
AVANTGARDE-SCHRIFTKUNST
Für das Schreiben von Schriftzeichen ist die Reihenfolge der Striche besonders wichtig. Alle Stilrichtungen der Schriftkunst haben diese Regeln der Strichfolge respektiert. Lediglich bei der Herstellung von Siegeln (tenkoku) und bei den in Holz geschnittenen oder in Stein gemeißelten Zeichen (kokuji) durfte von der vorgegebenen Reihenfolge abgewichen werden.
Für die Avantgarde-Schriftkunst zenei-sho ist es bezeichnend, daß sie die vorgegebene traditionelle Form des Zeichens nicht besonders wichtig nimmt. Das Interesse richtet sich mehr auf die Frage, wie der leere Raum, das Nichts (mu) des begrenzten Blattes Papier durch kraftvolle Punkte und Linien verlebendigt werden kann.
Schriftzeichen sind Kombinationen von Punkten und Linien und manchmal Symbole. Obgleich solche Kombinationen für diejenigen, die sie zu lesen verstehen, Bedeutung haben, sind sie für solche, die sie nicht lesen können, ein Durcheinander von Punkten und Linien. Zum Beispiel bedeutet das Zeichen »+« als Schriftzeichen gelesen »jü« (zehn), als Symbol einer mathematischen Funktion »plus«, und schließlich kann es die Assoziation des Kreuz-Symbols hervorrufen. Eigentlich ist es nichts anderes als eine vertikale und eine horizontale Linie, die sich im annähernd rechten Winkel kreuzen. Auch die Länge der Linien unterliegt einer Beschränkung. Es bleibt also offen, ob es sich dabei um ein Schriftzeichen handelt oder nicht. In der Nicht- Avantgarde-Schriftkunst haben die Bedeutungen der Schriftzeichen großes Gewicht. Das heißt, ein Schriftkünstler dieser Richtung schreibt etwas, was er sich bereits in seinem Kopf vorstellt. Die Aufgabe eines Avantgarde-Schreibmeisters dagegen ist, zuallererst die Fläche »anzugehen«, um dann zu sehen, was bei der Explosion der kreativen Energie herauskommt.
»Das Weiß angreifen« oder »Das Weiß zum Leben erwecken« nennen das oft die Schriftkünstler. Manchmal benutzen sie auch andere Geräte anstelle eines Pinsels und Farben statt Tusche. Manche haben eine Vorstellung von dem, was sie tun wollen, manche nicht. Manchmal schreiben sie allein, manchmal in Gruppen. Gewöhnlich arbeiten sie in kurzen, explosiven Ausbrüchen, doch manchmal erst nach langer, vorbereitender Konzentration.
Als Papiere werden verschiedene chinesische bzw. japanische Papiere bevorzugt. Da dieses Papier die Tusche in sich eindringen läßt, kann der Schriftkünstler eine andere, eine tiefere »Welt« gestalten jenseits dessen, was der Betrachter auf den ersten Blick begreifen kann. Das westliche Papier dagegen ist undurchdringlich, nicht saugfähig, so daß nur eine einzige Welt entstehen kann. Das Wesentliche der Würdigung eines schriftkünstlerischen Werkes jedoch ist, tiefer in die »innere Welt« einzudringen, die unter der Oberfläche verborgen liegt.
Die schriftkünstlerischen Linien haben ihre besondere Art der Dicke, ihr Gewicht, ihre Kraft. Zeigt sich Steifheit vor Schlaffheit, bedeutet dies für die Wirkung eines Werkes eine ganze Welt der Veränderungen. Punkt und Linie erzeugen um sich auf dem Papier eine einzigartige Spannung. Sie können ihre Umgebung erwärmen, manchmal kühlen. Solche Schriftkunstwerke werden mitunter als süß, bitter oder ernst empfunden. Getreu reflektieren Punkt und Linien des Schriftkünstlers Lebensrhythmus. Betrachtet man ein solches Werk, kann man ihn deutlich spüren.
Doch können die Formen eines schriftkünstlerischen Werkes auch Ideen- Assoziationen auslösen. Reiche Formen sind wie Himmelsbrot.
SESSON UNO
Text aus dem Katalog zur Ausstellung: SHO. Moderne japanische Schriftkunst. München u. Berlin, 1991. Mit Künstlern der Mainichi Shodo Association, Tokio.
SESSON UNO (1912 – 1996), Vorstand der Mainichi Shodo Association, Tokio.