Die Gemälde von Hideaki Yamanobe entfalten in der Betrachtung eine ungemein suggestive Wirkung. Ihr Vermögen, den Blick zu fesseln, rührt vor allem daher, dass es dem Künstler immer wieder gelingt, in seinen Arbeiten (scheinbare) Gegensätze zu vereinen und dadurch visuelle und emotionale Ambivalenzen zu erzeugen, die das Sehen, Empfinden und Nachdenken gleichermaßen beschäftigen. Der westliche Bildbegriff der zeitgenössischen nichtgegenständlichen Malerei verbindet sich dabei mit einer spezifisch japanischen, an traditionellen Kunstformen geschulten Sensibilität. Zudem sind Yamanobes Arbeiten gleichermaßen gemalte Bilder und Bildobjekte. Mit mindestens 4 bis 5 Zentimeter breiten Spannrahmen für die Bildträger aus Leinwand oder Nessel kommt ihnen eine starke physische Präsenz zu, zumal sich das Farbmaterial nach außen hin aufstaut und stellenweise wulstig über die Bildränder ragt. Da der Künstler Farbigkeit vermeidet – mit Ausnahme der sparsamen Verwendung bestimmter Farben in einigen kleinformatigen Arbeiten – und sich auf Schwarz und Weiß bzw. deren Ausmischung als Grau beschränkt, wird die Aufmerksamkeit des Betrachters zusätzlich auf die Physis der Gemälde, d.h. auf Textur und Konsistenz des Farbmaterials gelenkt.
Dennoch sind die Gemälde, trotz aller Sparsamkeit der Flächengestaltung, unverkennbar bildhaft angelegt – und als Bilder zeigen sie eine weitere Ambivalenz, die sich umso deutlicher bemerkbar macht, je intensiver man sie betrach- tet. Zunächst erscheinen sie fraglos als ungegenständliche Malerei. Doch je länger man schaut, desto hartnäckiger stellen sich immer wieder landschaftliche Assoziationen ein. Plötzlich scheinen wie aus dichtem Schneetreiben oder aus Nebelschwaden heraus Fragmente von Felsen, Wäldern, Gebäuden aufzutauchen, ohne jedoch jemals konkret und eindeutig zu werden. Raumtiefe wird erahnbar und bleibt doch verschleiert. Es handelt sich bei Yamanobes Werken freilich keineswegs um Landschaftsmalerei – und doch scheint es, als ob aus Tiefenregionen des Gedächtnisses Landschaftserinnerungen aufstiegen, sei es an reale Naturerlebnisse, sei es an japanische bzw. chinesische Land- schaftsmalerei. Tatsächlich stellt die traditionelle ostasiatische Tuschmalerei eine wichtige Referenz für Yamanobe dar, insbesondere wegen der überragenden Bedeutung, die dort der in ein Spannungsverhältnis zu den gestalteten Partien des Bildes gesetzten Leere zukommt. Auch für ihn ist die Leere ein ungemein wichtiges Gestaltungselement. Seine Bilder besitzen in aller Regel kein Zentrum; die sparsam verteilten dunklen Partien tendieren meist zu den Bildr- ändern hin. Ein deutlicher Unterschied zur traditionellen Tuschmalerei besteht allerdings in der Malweise: Yamanobes Bilder sind nicht wie diese schwarz auf weiß gemalt, sondern umgekehrt. Yamanobe gibt seinen Leinwänden eine schwarze Grundierung, auf die er dann mit einem Flachpinsel weiße, leicht mit Ocker abgetönte Acrylpaste aufträgt. Die dunklen Partien erscheinen daher nicht als Figuren auf hellem Grund, sondern werden vom Weiß wie von Nebel oder Schnee verschleiert – oder auch von aufsteigendem Dampf, woran man umso eher denken wird, wenn man mit der japanischen Badekultur der Onsen, der heißen Quellen, vertraut ist. Dem Künstler ist diese doppelte, „kalte“ wie „heiße“ Lesart wichtig, worauf der häufig wiederkehrende Werktitel „Two Feelings“ deutet. Das gilt auch für seinen typischen, von stockenden oder „stotternden“ Pinselbewegungen herrührenden Duktus, der widersprüchliche Natu- rassoziationen wie z.B. die an Daunenfedern (warm und weich) oder aber an Schlangenhaut (kalt und glatt) wachruft.
Peter Lodermeyer